Vielfalt im Fluss: Wie geht es unseren heimischen Fließgewässern?
Vortrag von Privatdozentin Dr. Andrea Sundermann,
Senckenberg Gesellschaft für Naturkunde
am 13. Dezember 2022
über die Fauna in den Gewässern des Rhein-Main-Gebiets
Fließgewässer in Deutschland leiden unter vielfältigen Stressfaktoren
Fließgewässer und ihre Auen nehmen nur etwa 2,5 Prozent der Landfläche ein. Aber dabei beherbergen sie beispielsweise in der Schweiz 50 Prozent aller Pflanzenarten und 40 Prozent aller Tierarten. Diese kommen ausschließlich hier oder auch hier vor. Damit seien Auen der artenreichste Lebensraum in Europa, Zentren biologischer Vielfalt, betonte Dr. Andrea Sundermann. Und sie nahm die Zuhörer im Vortragssaal des Wiesbadener Museums mit in eine aquatische Welt. Sie zeigte einige Beispiele von Lebensformen, die man sonst so nicht sieht. Die Larve einer Eintagsfliege verbringt etwa elfeinhalb Monate im Wasser, bevor sie schlüpft und als Imago nur wenige Tage benötigt, um sich fortzupflanzen. Köcherfliegenlarven unterschiedlicher Arten bauen sich Gehäuse aus unterschiedlichen Materialien: Steinchen, Stöckchen, Blätter. Weitere Arten wie Steinfliegenlarven, kleine Krebse oder Libellenlarven haben sich dem Lebensraum mit mehr oder weniger rascher Strömung angepasst und sind oft flach gebaut. An benthischen Invertebraten (in der Bodenzone von Gewässern vorkommenden Wirbellosen) gebe es in Europa 9456 Arten, in Deutschland kämen davon 4634 vor, erläuterte Sundermann. Problem sei, dass etwa 60 Prozent der Weltbevölkerung in bis zu einem Kilometer Entfernung von Wasser lebten. Dadurch seien 90 Prozent der Auen in Nordamerika und Europa zerstört oder stark verändert. Die Sektionsleiterin Flussökosystemmanagement zeigte anhand von Landkarten, wie der Hochrhein durch menschliche Eingriffe verändert wurde. 1828 noch sei der Fluss aufgegliedert in zahlreiche Seitenarme und Inseln. 1872 war dann die Schifffahrtsrinne angelegt, aber es gab noch Seitenarme. 1963 waren auch die Seitenarme verschwunden. Ähnlich sieht es bei vielen anderen Fließgewässern aus, die meisten sind begradigt, es ist keine Dynamik mehr vorhanden. Zu den strukturellen Veränderungen kommen die Einträge von Nährstoffen und Abwässern sowie der Klimawandel hinzu.
Eigentlich sei in der europäischen Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) aus dem Jahr 2000 ein guter ökologischer Zustand aller Fließgewässer bis ins Jahr 2015 vorgesehen gewesen. Der Zeitraum, dies zu erreichen, wurde schon auf 2027 verlängert. Grundlage dafür ist auch ein Monitoring der Gewässer mittels biologischer Qualitätskomponenten. Das Vorkommen bestimmter Organismen sei dabei ein Maß, ob es den Gewässern gut gehe, sagte Sundermann. Von 7414 Stellen in Deutschland, an denen Daten zu den benthischen Invertebraten erhoben wurden, erreichen lediglich 2177 Stellen eine guten oder sehr gute ökologische Zustandsklasse. Die übrigen 5237 Stellen könnte nur mit mäßig, unbefriedigend oder gar schlecht bewertet werden, was Indikator für einen Sanierungsbedarf ist.
Bei 50 Renaturierungsprojekten habe das Senckenberg-Institut die Auswirkungen der Renaturierung der Morphologie auf das Arteninventar untersucht. Trotz des verbesserten Potentials sei dadurch kein positiver Trend feststellbar gewesen, so Sundermann. Manche Gewässer hätten eine Schulnote besser eingestuft werden können, viele seien unverändert und bei manchen sei sogar eine schlechtere Bewertung vorgekommen. „Woran liegt das?“ stellte die Biologin in den Raum. Bei 486 Arten an Vertebraten ist getestet worden, wie sie mit Nährstoffen im Wasser zurecht kommen. Dabei wurde festgestellt, dass beispielsweise für ortho-Phosphat der Schwellenwert für das Vorkommen einer Art bei 0,11 bis nur 0,01 mg/l liegt. Der Orientierungswert mancher Bundesländer für Gewässer liege aber bei 0,07 bis 0,1 mg/l. Für manche Arten sei das ein Problem. „Geklärtes Abwasser ist nicht frei von Schadstoffen“, betonte Sundermann. Etwa 100 000 Chemikalien sind in der EU registriert. In manchen Proben finden sich 1000 verschiedene Chemikalien, die auch bei der Klärung mit einer dritten Reinigungsstufe nicht eliminiert werden. Zusätzlich werden Stoffe aus der Landwirtschaft wie Pestizide in die Gewässer eingeschwemmt. Im Senckenberginstitut sind jetzt für 25 Chemikalien Schwellenwerte, d.h. kritische Konzentrationen für das Vorkommen einzelner Invertebraten berechnet worden. Diese liegen teilweise deutlich unter den Umweltqualitätsnormen. Ein weiteres Problem ist das immer häufiger Trockenfallen von Fließgewässern durch den Klimawandel. Oberläufe fallen auch natürlicherweise gelegentlich trocken, aber dies häuft sich jetzt. Auch schon ein niedrigerer Pegelstand führt zu höheren Temperaturen. Das bedeutet weniger Sauerstoff im Gewässer, wodurch empfindliche Arten wegfallen. Bei geringerem Pegelstand ist dann auch der Anteil an geklärtem Abwasser größer, wodurch die Konzentration der nicht ausgefilterten Nähr- und Schadstoffe größer ist. Für den Breitenbach in der Rhön, der als bestuntersuchtes Gewässer gilt, liegen seit 42 Jahren Daten vor. Durch den Temperaturanstieg in den vergangenen Jahren gibt es hier mittlerweile 80 Prozent weniger Wasserinsekten.
Prof. Dr. Andrea Sundermann empfiehlt Gewässer ganzheitlich zu betrachten
Um etwas gegen den Artenschwund zu tun, müssen die Gewässer ganzheitlich betrachtet werden. Einerseits muss der Eintrag von Stoffen aus Landwirtschaft und Kläranlagen reduziert werden. Eine vierte Reinigungsstufe kann beispielsweise 80 Prozent der Schadstoffe herausfiltern. In der Schweiz habe man schon gute Erfahrungen mit der 4. Reinigungsstufe gemacht, betonte die Biologin. Im Zusammenhang mit dem „Green Deal“ der EU soll die Menge der Pestizide bis 2030 um 50 Prozent reduziert werden. Auch eine Reaktivierung der Auen sei sinnvoll, so Sundermann weiter. Durch die Anlage von Auwäldern laufe Hochwasser langsamer ab, Hochwasserwellen würden abgemildert. Sie seien auch effektive Wasserspeicher in trockenen Sommern. Für die Zukunft setze sie auf „Schwammstädte“, bei denen in den Siedlungsflächen selbst das Wasser zurückgehalten werde.